Der Flüchtlingsstrom nach Europa wird weitergehen. Alle Hoffnungen, nach dem Ende des Kalten Krieges werde die Erde friedlicher und konfliktfreier werden, haben sich als Illusion erwiesen. Krieg, Unterdrückung, Verfolgung und Töten nehmen seitdem eher zu. Und solange auch Menschen ihre Lebensgrundlage verlieren, weil aufgrund des Klimawandels der Regen ausbleibt, die Böden nichts mehr hergeben und die Tiere verdursten, und weil die Meere vor ihren Küsten von fremden Trawlern leer gefischt werden, setzen sie sich in Bewegung. Nach Schätzung des UNHCR sind derzeit weltweit über 50 Mio. Menschen auf der Flucht. Es sind die Informiertesten und Beweglichsten, die sich auf den Weg machen, um einen Ort des Überlebens zu finden. Einer dieser Orte ist für sie Europa. Sie setzen dafür ihr letztes Geld und das ihrer Familien aufs Spiel, oft auch ihr Leben.

Europa will sich den größten Teil der Flüchtlinge vom Leibe halten. Jahrhundertelang gab es Emigration aus Europa. Heute droht der Kontinent aufgrund gesunkener Geburtenraten zu vergreisen. Immer weniger Berufstätige stehen immer mehr Rentnern gegenüber. Deutschland beklagt mangelnde Fachkräfte und unbesetzte Ausbildungsstellen. Trotzdem stand die europäische Flüchtlingspolitik lange im Zeichen der Abschottung. Erst in letzter Zeit entwickelt sich daneben in den reicheren EU- Staaten auch eine andere Tendenz: Der Zuzug von anderen Erdteilen soll selektiv zugelassen und gefördert werden, wenn er aus passgenau qualifizierten Arbeitskräften besteht. Ansonsten bleibt die Zuwanderung nach Möglichkeit begrenzt und Europa die „Festung“, die ungebetene Flüchtlinge abweist. Das Schengener Abkommen von 1995, das innerhalb Europas die Grenzen niederriss, befestigte sie nach außen. So ist das „Flüchtlingsproblem“ bis heute in erster Linie ein Problem der militärischen Grenzsicherung geblieben, von Frontex bis Triton. Daran ändert auch die kontingentierte Aufnahme von 20.000 syrischen Flüchtlingen in Deutschland wenig. Es bleibt eine eher symbolische Geste, Europa hat bislang weniger als 5% aller syrischen Flüchtlinge aufgenommen.

Die Abwehr der Flüchtlinge wird so weit wie möglich nach außen verlagert. Seit 2003 gilt in der EU „Dublin II“, seit 2013 „Dublin III“. Kommen die Flüchtlinge ohne Visum, ist für ihren Asylantrag das Land zuständig, über das sie „einreisen“. Mit der Konsequenz, dass sie dorthin zurückgeschickt werden können, wenn sie in einem anderen europäischen Land auftauchen. Dies verlagert die Verantwortung für die meisten Flüchtlinge von der europäischen Mitte an die Peripherie (Polen, Ungarn, Griechenland, Italien, Spanien, Malta). So ungerecht dieses System gegenüber Südeuropa ist, so unmenschlich ist es gegenüber den Flüchtlingen. EU-Staaten wie Malta, Bulgarien und Ungarn inhaftieren systematisch bei ihnen ankommende Flüchtlinge. In Italien oder Griechenland leben sie oft als Obdachlose auf der Straße, in Parks oder Abbruchhäusern. Sie müssen betteln und sind schutzlos Gewalt und rassistischen Angriffen ausgesetzt.

Die Flüchtlinge werden anonymisiert. Die EU versucht, das Problem noch weiter nach außen zu verlagern: Nordafrikanischen „Drittstaaten“ wird Wirtschaftshilfe zugesagt, wenn sie schon im Vorfeld die Flucht nach Europa unterbinden (dass dies in Ländern wie Libyen gegenwärtig nicht funktioniert, liegt am dortigen Bürgerkrieg). Dadurch erspart es sich vor allem die europäische Mitte, mit den „Kollateralschäden“ dieser Flüchtlingspolitik konfrontiert zu werden. Und somit auch das Mit-Leiden, das sich am Schicksal konkreter Menschen festmacht. Die Flüchtlinge sterben an der Peripherie: in Nordafrika, im Mittelmeer, an der Grenze zur Türkei, eingeklemmt unter Lastwagen von Griechenland nach Italien.

Doppelmoral. Während der Nazizeit mussten viele Deutsche flüchten – viele, die es nicht taten, bezahlten dafür mit ihrem Leben. Heute finden die Bemühungen, sich um die
Integration von Flüchtlingen zu kümmern, in Teilen der Bevölkerung und der Politik Rückhalt, wenn auch nicht überall. Moralisch schizophren ist das Bekenntnis zur
„Willkommenskultur“, wenn man im gleichen Atemzug vor der europäischen Festungspolitik und ihren tödlichen Konsequenzen die Augen verschließt. Man schätzt, dass in den letzten 25 Jahren allein im Mittelmeer mehr als 20 000 Flüchtlinge umkamen. Die meisten der dahinter stehenden Tragödien blieben für uns stumm. Wir empören uns erst, wenn sie zum medialen Ereignis werden. Wie am 3. Oktober 2013 und am 9. Februar 2015 vor Lampedusa, als das zweimalige Massensterben der Welt vor Augen führte, welche Folgen die europäische Flüchtlingspolitik immer noch in Kauf nimmt.

Europas Antwort: weiter mit der Festungspolitik. Man könnte meinen, dass die Toten von Lampedusa eine Änderung dieser Politik erzwingen. Und in der Tat: Im Oktober 2013 beschloss die Regierung Letta die Aktion „Mare Nostrum“, mit der die italienische Marine im Laufe eines Jahres über 150 000 Schiffbrüchige aus dem Mittelmeer rettete. Aber hinter der Aktion stand nur Italien. Nachdem es die anderen europäischen Länder vergeblich gebeten hatte, sich an der Aktion zu beteiligen, beendete sie die Regierung Renzi Ende Oktober 2014. Seitdem läuft die Operation „Triton“ der EU-Agentur Frontex. Ihre Priorität ist nicht die Rettung von Menschenleben, sondern die „Überwachung der EU-Außengrenze“, die auch über ein paar Kapazitäten zur Seenotrettung verfügt. Da sie finanziell und technisch schlechter ausgestattet ist als „Mare Nostrum“ und ihr Einsatzgebiet 30 Seemeilen vor der italienischen Küste endet, wird die Flucht über das Mittelmeer wieder zu einem tödlichen Hazardspiel. Wenn die Flüchtlinge trotzdem Europa erreichen, soll sie jetzt ein „zentrales elektronisches Grenzregister“ erfassen.

Europäische Placebos. Man versichert, man müsse das Elend der Flüchtlinge an ihrer Wurzel, d. h. im jeweiligen Herkunftsland bekämpfen. So richtig dies langfristig ist, so wenig hilft es denen, die sich heute zur Flucht entschließen. So lange „Hilfe im Herkunftsland“ ein ungedeckter Wechsel auf die Zukunft ist, hängt es der Abweisung von Flüchtlingen nur ein moralisches Mäntelchen um. Ein weiteres Placebo ist der „Kampf gegen kriminelle Schlepper“. Wenn man ihnen das Handwerk lege, so wird suggeriert, ende auch das Sterben an den europäischen Grenzen. Aber so widerwärtig das Treiben dieser Schlepper oft ist, so irreführend ist es, in ihnen den Grund des „Flüchtlingsproblems“ zu sehen. Dessen Ursachen sind das Elend in den Herkunftsländern und eine Abschottungspolitik, die den Zugang nach Europa versperrt. Wie überall, wo es eine Nachfrage nach illegalen Gütern gibt, gedeihen die Geschäfte der Dealer und Schlepper. Sie sind die Wirkung, nicht die Ursache.

Dublin am Ende? Die Zahl der in Europa ankommenden Flüchtlinge steigt wieder deutlich an. Gleichzeitig erweist sich das Dublin-Verfahren, das die Zuständigkeit für die Asylanträge den Erstaufnahmeländern zuweist, als zunehmend funktionsunfähig. Bereits seit Jahren werden keine Abschiebungen mehr nach Griechenland vorgenommen, weil dort das europäische Flüchtlingsrecht eklatant verletzt wird. Im vergangenen Jahr verbot der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte auch eine Abschiebung von Familien mit minderjährigen Kindern nach Italien, ohne dass die dortigen Behörden ihre Unterbringung und Versorgung gewährleisten.

Für Ungarn, Bulgarien, Rumänien oder Malta gibt es gerichtliche Einzelfallentscheidungen, die eine Abschiebung dorthin wegen drohender Menschenrechtsverletzungen verbieten. Hunderte von Kirchenasylen, Blockaden und Protesten zeugen davon, dass auch in der Zivilgesellschaft die Abschiebung von Flüchtlingen in andere europäische Länder auf
Unverständnis stößt, wenn dort keine menschenwürdige Aufnahme gewährleistet ist.

Auch die Randstaaten Europas wehren sich gegen die ihnen zugedachte Rolle. Immer häufiger lässt z. B. Italien, an dessen Küsten jährlich Hunderttausende von Flüchtlingen ankommen, sie ohne Prüfung in andere europäische Länder weiterreisen. Deutschland fordert inzwischen, die neu ankommenden Asylsuchenden „gerechter“ auf die europäischen Länder zu verteilen, der UN-Flüchtlingskommissar befürwortet eine Quotenregelung. Doch die Flüchtlinge werden weiterhin dorthin fliehen wollen, wo sie Verwandte und Bezugspersonen vorfinden. Aus Sicht von Menschenrechtsorganisationen macht der ganze europäische Verschiebebahnhof wenig Sinn. Sie fordern, es den Flüchtlingen zu überlassen, wo sie einen Asylantrag stellen wollen, und im Übrigen einen finanziellen Ausgleich zwischen den europäischen Staaten vorzunehmen.

Deutschland ist ein Land der Migration. 2013 standen gut 1,2 Millionen Zuwanderer rund 800.000 Auswanderern gegenüber. Nur ca. 10 % der Zuwanderer sind Flüchtlinge. Die meisten kommen als „Illegale“, denn an seinen Grenzen hält Europa an der Abschottungspolitik fest. Die Flüchtlinge werden weiterhin in erster Linie als Last und nicht als Chance gesehen.
Und das Sterben geht weiter.

Hartwig Heine, Lisa Palm und Kai Weber

Februar 2015